Matrix aus 1 und 0 - Grafik

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Ich bin Wirtschaftskommunikator, Suchmaschinenoptimierer, Online Marketer und Digital Native. Klingt alles irgendwie wichtig und hat man schon mal gehört. „Das sind die Leute, die im Internet Geld verdienen!“

Ich arbeite täglich im Web 2.0 und verdiene hier mein täglich Brot. Ich optimiere und erschaffe Webseiten, schalte Werbekampagnen bei Google und Facebook und berate Kunden zu Online Marketing Strategien in der D-A-CH Region und Russland.  Meine Erfolge messe ich mit Zahlen und Benchmarking. Ein Freund hat einmal gesagt, „dein Lebenslauf liest sich als hättest du das Internet erfunden“.

Ich bin heute an einem Punkt angekommen, wo ich glaube, dass Internet verstanden zu haben und erklären zu können. Doch kann ich das wirklich? Habe ich wirklich das gesamte Internet und seine Funktionsweise verstanden? Kann ich wirklich erklären, wie das Internet und seine Nutzer ticken? Oder bin ich nur ein Nerd, der nur noch rational konsumiert?

Alles durch die SEO Brille sehen

Jeder Suchmaschinenoptimierer kennt diese Krankheit: Als SEO sieht man alle Webseiten irgendwann nur noch in numerischen Größen wie z.B. PageRank, Trust- und Citation Flow. Selbst in der Freizeit kann man es nicht lassen, eine neu entdeckte Seite mal eben gedanklich „aus einander zu nehmen“. Als SEO glaubt man immer, den Erfolg oder Misserfolg einer Website erklären zu können. Das kann man tatsächlich, denn im Bereich der Suchmaschinenoptimierung gibt es feste Größen und bekannte Indikatoren.

Das mag jetzt für meinen Beruf von Vorteil sein, aber für mich als privaten Internetnutzer habe ich durch dieses Wissen auch etwas wichtiges verloren: Die naive Fähigkeit, eine Website einfach so zu nehmen wie sie ist und mich überzeugen zu lassen.

Man sieht keine Angebote mehr, nur noch Online Marketing

Wenn ich online einkaufen gehe, bin ich wie jeder andere…glaube ich. Aber wenn man mal ganz ehrlich ist, dann bin ich alles andere als ein normaler E-Commerce User.

Ich sehe sofort wenn ein Onlineshop optimiert ist und wenn die LandingPage der AdWords Kampagne perfekt auf Conversion getrimmt ist. Meine kleinen Chrome-Browser PlugIns leuchten grün auf und sagen mir: „Die Metas sind unique, der PR ist hoch, PageSpeed ist optimal, die Seite wurde suchmaschinenoptimiert.“

Und dann passiert etwas, was eigentlich nichts mehr mit einem normalen User zu tun hat: Ich beginne das Angebot zu hinterfragen und zweifle am Mehrwert des Angebots!

„Wenn die Seite so gut optimiert wurde, dann stimmt was mit dem Angebot nicht.“

Diese Aussage ist schlichtweg falsch, aber sie betrifft mich. Und ich merke immer wieder, wie man dadurch beim Onlineshopping an den Abgrund des Vergleichswahnsinns gerät, anstatt sich einfach mal zu sagen: „Ich hab das gefunden was ich gesucht habe, die Seite ist schnell und übersichtlich, die Bedienung ist einfach, der Preis stimmt, hier kaufe ich!“

So läuft das nämlich bei einem „normalen Nutzer“ ab.

Das ist kein Link, das ist Geld!

Irgendwann habe ich sogar angefangen, mir alle Links genau anzuschauen, bevor ich sie angeklickt habe. Man entdeckt dann in einem Amazon Link eine Partner ID, einen „dofollow“ Link auf ein Money Keyword in einem Blog und Conversion Tracking URLs in E-Mails. Das totale Misstrauen. Es ging sogar mal soweit, dass ich eine URL via Rechtsklick in den Browser kopiert habe und dann aber die Affiliate ID gelöscht habe.

„Der Link ist nützlich, aber du verdienst an mir nichts!“ – „Nein, ich gebe Euch keine Feedback Daten für Eure E-Mail Marketing Kampagne!“ – „Du Scheiss Blogger schreibst doch auch nur, damit du deine Provisionen von Amazon kriegst!“

Mein eigenes Fachwissen entwickelte ein eigenes Ego. Es war mir möglich all diese Dinge genau zu verstehen und auch zu analysieren wie die Konkurrenz arbeitet und welcher Blogger im Grunde nur Amazon Partnerprogramm Links postet usw.

Im Grunde hätte es mir ja egal sein können, ob jemand bei Amazon eine Provision verdient wird, wenn ich über seinen nützlichen Link ein Produkt kaufe. Und es kann mir egal sein, wie ein Blogger sein Blog monetarisiert oder DoFollow Links verkauft. Und muss mir auch egal sein, ob eine Digital Marketing Agentur gerne den Erfolg einer Kampagne messen will.

Das ist Wahnsinn. Die totale Daten-Spionage-Paranoia.

Teilweise habe ich nur noch in Zahlen und CTR´s gedacht und das ganz von alleine. Mein Wissen hat meine Sicht auf die Dinge grundlegend verändert. So wie ein Automechaniker sofort sieht, dass die Karosserie verzogen ist. Dabei machen doch all diese Leute auch nur das was ich auch tue: Im Internet Geld verdienen! Und das ist auch völlig legitim und alltäglich.

Anmerkung: Ich gebe zu, das klingt jetzt wirklich ziemlich strange, aber ganz so schlimm war es nun auch nicht. Ich habe hier nur versucht, Euch meine Denkweise durch rhetorische Stilmittel etwas „dramatischer“ und „unterhaltsamer“ darzustellen. Quasi etwas vereinfacht, etwas mehr verbildlicht. 🙂 

 

Dafür geb ich kein Plus 1, das pusht die Konkurrenz!

Die nächste Macke: Man liked oder teilt keine Beiträge mehr weil man weiß, dass man dadurch die Reichweite und die Popularität der Konkurrenz erhöht.

Als SEO kennt man die Begriffe „Social Signals“, „personalisierte Suche“ und „empfehlungsbasierte SERP aufgrund von Google Plus“ (authorship markup). Als ich noch so richtig hardcore unterwegs war, da habe ich wirklich immer so gedacht.

„Nein, das teile ich nicht, das ist ein Linkbait“ – „Nein, pay with a tweet, nice try dude!“ – „Nein nein nein“

Schrecklich.

Wenn ich mir das heute noch mal durch den Kopf gehen lasse, habe ich mit diesem Verhalten sogar dafür gesorgt, dass wirklich gute Inhalte nicht ausreichend beachtet wurden. Und das allein dadurch, dass ich meine eigentlich Sympathie zu einem Autor oder einem Artikel verleugnet habe.

Gottseidank bin ich heute, zumindest was das betrifft, geheilt. Ich habe mich vom ständigen Konkurrenzdenken getrennt und teile und like auch was mir gefällt. Denn wenn ein Artikel richtig gut ist, dann haben auch andere einen Anspruch darauf es zu wissen und auch darauf, woher ich meine Informationen beziehe.

Facebook Fan? Du bist nur eine Zahl in meiner Statistik!

Loupe Target Groupe

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Reichweite und Viralität von Beiträgen, demografische Daten der Zielgruppe für Anzeigenkampagnen – Das ist für mich Facebook.

„Das hat funktioniert, das nicht. Die beste Zeit für neue Posts ist Werktags zwischen 13 – 15 Uhr. Interaktionsraten am Wochenende jedoch höher. Idealerweise 1 – 2 Posts am Tag. Fotos funktionieren besser. Alles abhängig von Branche und Zielgruppe.“

Das liest sich so trocken und abgebrüht, aber genau so betrachtet man in der Praxis eine Facebook Unternehmensseite. Es muss mich nicht interessieren, wer all diese Fans sind denn ich habe Zahlen, die mir das sagen. Und nur diese Zahlen sind wichtig um denen etwas zu verkaufen oder sie anzusprechen. Und es sind auch wiederum nur Zahlen, die mir Erfolge oder Misserfolge signalisieren.

Hier kann ich aber beruhigt sagen, dass ich trotzdem ein ganz normaler Facebook Nutzer bin. Das ist für mich privates Terrain, da kann man scherzen, sich austauschen und sich mit allen möglichen Inhalten austoben. Easy!

Katzenbilder sind ein Glitch in der Matrix!

Alles was ich mir nicht logisch mit Zahlen oder bekannten Effekten erklären kann schreckt mich ab. Zum Beispiel die Popularität von Katzenbildern oder „Oktoberfest 2013“ in den Google Trends.

Es gibt durchaus Möglichkeiten virale Effekte herbeizuführen, z.B. durch provokante Artikel oder Humor. Es gibt aber auch oft Dinge, die sich mir als extremer Internetnutzer nicht erklären kann und die teilweise selbst die Macher des Quellcontent überraschen. Vielleicht sind diese unerklärlichen Phänomene jedoch ganz einfach mit „Zufall“ oder „Glück“ zu erklären? (siehe Daniel Kahnemann – Schnelles Denken, langsames Denken) Oder es gibt gar keine plausible Erklärung. Vielleicht hat es Justin Sacco nur deshalb so hart getroffen, weil sie einfach Pech hatte?

Solche Erscheinungen lassen mich regelmäßig meine Kompetenz hinterfragen und sie machen mich unruhig.

Fazit

Das war nur ein Auszug davon, wie ich die digitale Welt sehe und verstehe. Als kritischer Mensch muss ich aber auch ganz klar sagen, dass meine Art der Betrachtung des Internet zwar hilfreich ist, was die Erklärung von z.B. Suchmaschinen und sozialen Netzwerken angeht, es mir jedoch reichlich an Subjektivität fehlt bzw. an Bezug zu normalen Internetnutzern. Ich kann auf dem Sektor der Suchmaschinenoptimierung und des Marketing allgemein sicher vieles erklären und auch beeinflussen, man darf aber nicht vergessen, dass man eben nicht alles weiß und auch nicht in die Zukunft sehen kann. Und man muss ganz klar sagen, dass meine Sicht auf das Internet durch mein Fachwissen verzerrt ist.

Ein SEO hat eben auch nur einen begrenzten Horizont, genau wie ein Sozialwissenschaftler. Beide können auf ihrem Gebiet Dinge erklären, aber beiden fehlt es an Wissen um die Gesamtheit des Internet zu verstehen.

Was ich eigentlich sagen will: Meine Wahrnehmung des Internet ist verfälscht. Die breite Masse an Usern sind normale Menschen ohne jegliche Kenntnisse des Web 2.0. Sie konsumieren und surfen ohne Vorurteile. Sie kaufen, googlen und teilen Inhalte auf Facebook ganz so, wie das ein durchschnittlicher Mensch tut. Ich tue das anders, reflektierter und kritischer. Ich bin kein durchschnittlicher Internetnutzer, aber ich verkaufe eine Dienstleistung, die eben diese Durchschnittsnutzer ansprechen soll. Irgendwie widersprüchlich.

Ein Schalter wäre schön

Schalter on und Off

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Ich als „Experte“ eines Fachgebiets bewege mich durch mein Wissen anders im Netz als ein durchschnittlicher Internetnutzer. Da meine Zielgruppe aber eben genau diese durchschnittlichen User sind, habe ich dann nicht eine verzerrte Sicht der digitalen Realität?

Ein Schalter, mit dem man schnell von Experte auf Laie umschalten kann, wäre perfekt. Ich könnte vor jeder Online Marketing Kampagne selbst herausfinden, wie Inhalte, Webseiten oder Angebote auf mich wirken. Dann schalte ich wieder zurück und benutze die Erkenntnisse als Experte. Geht aber nicht!

So bleibt mir nur kritisch und empathisch zu bleiben und vor allem mit echten Menschen zu reden anstatt mich nur auf Zahlen zu verlassen. Sicherlich sind Zahlen das Grundgerüst des Internet und auch die Hauptindikatoren bei der Messung von Online Marketing Erfolgen und Nutzerverhalten.

Und einen Punkt sollten wir niemals vergessen: Wir sind alles Individuen, unterschiedliche Menschen. Niemand kann uns erklären, schon gar nicht in Zahlen.

Frohes neues Jahr!